Im restaurant essen, heute nicht möglich

Der Jahreswechsel sollte etwas ganz Besonderes werden.

Zum ersten Mal wären mein Partner und ich an Silvester ohne Kinder unterwegs.

Also organisierten wir uns eine Ferienwohnung, inmitten eines Skigebietes vom 30.12. bis 02.01.

Damit wir den Silvestermorgen nicht gleich mit der Jagd auf frisches Brot und Frühstücksspeck verbringen müssten, nahmen wir alles für ein reichhaltiges Frühstück von Zuhause mit. Zum guten Glück, wie sich später noch herausstellen sollte.

 

Am frühen Abend des 30.12. machten wir uns zu Fuss auf den Weg ins Dorf – mit dem Ziel: Ein wenig zu flanieren, das Dorf zu erkunden und ein gemütliches Restaurant, für ein leckeres Abendessen zu finden.

 

Gemäss Einträgen im Telefonbuch soll es 52 Restaurants im und um den Ort herum geben. Für mich als Angstbetroffene also 52 Chancen, ein Restaurant zu finden, in dem auch ich es schaffe, etwas zu essen und es sogar zu geniessen. Warm eingepackt und guten Mutes machten wir uns auf ins Dorf.

 

Jedes Restaurant wurde von mir, mit einem Blick von aussen, kritisch begutachtet. Hier sah es aus, wie im Wartesaal eines Bahnhofs, da gab es keinen Tisch am Rand, dort gab es gar keinen freien Platz mehr, hier waren wir falsch gekleidet und anderswo wurde der eine Tisch, den ich im Blick hatte, gerade mit einem Kinderstuhl und einem Reserviert-Schildchen ergänzt. Natürlich gaben wir so schnell nicht auf und schauten uns Restaurant für Restaurant an.

 

Am Dorfende angelangt, entschied ich mich dann doch, in den «Wartesaal» zurück zu gehen, denn da hatte es am wenigsten Menschen gehabt. Dort angekommen musste ich feststellen, dass das Restaurant inzwischen brechend voll war. Nun denn, wir entschieden gemeinsam: Dann bestellen wir uns eine Pizza zum Mitnehmen und warten an der Bar darauf.

Der Kellner hatte nur ein fades Lächeln für uns übrig. Wartezeit: 1,5 Stunden. «Wir sind komplett ausgebucht» fügte er noch an. Na toll, und nun?

 

Langsam machte sich nicht nur die Panik in mir breit, irgendwo in einem überfüllten Restaurant zu sitzen und keinen Bissen runter zu bringen, weil die Panik Überhand nimmt. Nein, die Panik, hungrig zu Bett gehen zu müssen, schlich sich nun auch noch ein.

 

«Reiss dich zusammen, das schaffst du», motivierte mich meine innere Stimme immer wieder. Wie ein kleines Kind vor einem Schaufenster eines Spielwarenladens steht, stand ich dann jeweils vor den nächsten Restaurants, blickte erwartungsvoll durch die ebenerdigen Fenster herein und musste enttäuscht feststellen, dass keines dieser Restaurants für mich in Frage kam. Zu viele Menschen, die zur selben Zeit auch einen brummenden Magen und Hunger hatten. Panik, auch nur irgendwo abzusitzen, geschweige denn, in dem Tumult etwas zu bestellen oder gar ein Essen geniessen zu können.

 

Etwas frustriert verliessen wir den Dorfkern und machten uns auf den Weg zurück in unsere gemütliche Ferienwohnung. Dort nahmen wir unsere iPads zur Hand und recherchierten. Ich fand heraus, dass es im Dorf zwei Lieferdienste gibt. Also online die Karte des Pizzaservices studiert, die leckere, saftige Pizza schon auf dem Tisch vor mir stehen sehend, angerufen und – oh weh: «Am heutigen Abend liefern wir nicht aus, zu viel zu tun im Restaurant. In 2,5 Stunden können Sie wieder anrufen». Okay, so lange wollten wir jetzt auch nicht mehr warten. Also sollte es Chinesisch werden. Ist ja von einer saftigen Pizza nicht weit entfernt. Mein Gaumen machte bereits den Wechsel von Pizza zu Rindfleisch Szechuan, da entdeckte ich klein geschrieben, dass die Bestellung vor 17 Uhr aufgegeben werden müsste, wenn man das Essen geliefert bekommen möchte. Oh weh zum Zweiten. Meine gute Stimmung verabschiedete sich sogleich und machte mal wieder dem Unmut Platz, warum es mit mir immer so kompliziert ist, einfach etwas Essen zu gehen. Etwas so Normales für andere Menschen und für mich selbst etwas so Schwieriges.

 

Mein Partner schlug vor, nachhause zu fahren und bei unserem mir vertrauten Italiener im Dorf essen zu gehen. Das fand ich dann irgendwie sehr schräg. 45 Minuten Fahrt für eine Pizza und dann 45 Minuten zurück ins Feriendomizil!? Nein, das dann doch auch nicht.

 

Mein Partner begann den Kühlschrank in der Ferienwohnung zu plündern und schmierte sich ein Brot. In dem Moment war für mich klar: Übung abgebrochen. Wir gehen nicht mehr aus dem Haus und das Frühstück wird vorverschoben.

 

Am Silvesterabend waren wir besser vorbereitet und holten uns am Nachmittag beim Discounter im Ort etwas zu Essen für den Abend.

 

Pierrette Siegel, Gründungsmitglied


Ich war noch niemals in new york...

Den untenstehenden Text habe ich für unsere Quartierzeitung verfasst, die in über 2000 Haushalte verteilt wird. Natürlich hat mich die Veröffentlichung einigen Mut gekostet, doch hinterher kann ich ganz klar sagen: Es hat sich gelohnt, offen zu meiner Angstkrankheit zu stehen! Die Reaktionen von wildfremden Menschen aus dem Quartier waren so verständnisvoll und liebenswürdig, dass ich immer wieder erstaunt und berührt war. Dass ich über vier Jahre lang meine Wohnung nicht verlassen habe, nicht einmal, um den Kehricht an den Strassenrand zu stellen, wäre eine andere Geschichte, die aber in diesem Text nicht thematisiert ist …

 

Wenn man sich lange Zeit immer nur ein paar hundert Meter von zu Hause wegbewegt, wird die Welt klein wie ein Stecknadelkopf. Doch auf einem Stecknadelkopf hat die ganze Welt Platz.

 

Viereinhalb Jahre verliess ich die Wohnung nicht mehr. Die Angst vor diesen plötzlichen, von aussen nicht sichtbaren Panikattacken, die mich seit vielen Jahren draussen überfallen, war übermächtig geworden. Und ich hoffte, durch tägliches, stundenlanges Meditieren, frei davon zu werden. Alltagseinkäufe besorgten meine beiden «eingeweihten» Freunde, ich selbst erledigte alles Mögliche per Telefon und Internet. Unvorhersehbares durfte einfach gar nicht passieren.

 

Ab Anfang 2013 überfielen mich die Panikattacken plötzlich auch in meinen vier Wänden. Dies zwang mich, meinen Schutzraum fluchtartig zu verlassen und die so gefürchtete Aussenwelt zu betreten. Ich hielt es nun in der Wohnung nicht mehr aus. So gab es keinen Ort mehr, wo ich mich ruhig fühlte.

 

Erstmals sah ich Asphalt vor mir auf dem Boden statt Parkett, ging in Schuhen statt in Filzpantoffeln, sah, was oben an der Dorfstrasse alles entstanden war, wovon bisher immer nur das Brummen der Baumaschinen zu mir gedrungen war, wurde vom Regen nass und vom Wind zerzaust. Fasziniert studierte ich die Schaufenster «unserer» Geschäfte, bis ich sie auswendig kannte.

 

Eines Tages, zur menschenleeren Mittagszeit, ein Höhepunkt: erstmals im «Spar» einkaufen, ein einziges Produkt, ein Bio-Gewürzsalz, für das man das Ladeninnere nicht einmal ganz betreten muss. Ich war dabei mindestens so nervös wie früher als Cellistin vor Konzerten.

 

Nach diesem Einkauf war ich so aufgewühlt, dass ich nicht anders konnte, als H., den ich nur vom Grüssen von meinem Sitzplatz aus kannte, überfallartig und unter Tränen mitzuteilen, ich sei soeben im «Spar» gewesen! Er reagierte ganz ruhig, freute sich für mich, obwohl für ihn ein solcher Einkauf bestimmt nicht der Rede wert ist, wünschte mir Mut, dranzubleiben und ging dann seines Weges.

 

Im «Spar» drei, vier Artikel einzukaufen, ist für mich noch immer nichts Selbstverständliches. Doch die besondere Liebenswürdigkeit des «Spar»-Teams hilft mit, immer wieder einen Versuch zu wagen.

 

Sternförmig von der Bushaltestelle Sternmatt ausgehend, begann ich meine tagtäglichen Spaziergänge, nie weiter entfernt als in zehn Minuten Gehdistanz von zu Hause und folglich immer auf denselben Wegen. Somit begegnete ich von Anfang an auch immer wieder denselben Menschen. Die Pöstler waren die Ersten, dann die Frau vom Mahlzeitendienst, Hundespaziergängerinnen und -spaziergänger, die Mütter, die jeweils gegen Mittag liebevoll ihre Kinder abholen – allmählich grüssten wir uns alle wie alte Bekannte, bis heute meist namenlos. «Beim nächsten Mal kostet es dann was!», rufen mir manche zu, wenn sich unsere Wege an einem Tag zum x-ten Mal kreuzen. Weshalb ich dauernd auf denselben Wegen ziellos unterwegs bin, wusste niemand.

 

Besorgt fragte mich kürzlich ein kleines Mädchen, das ich nur vom Sehen kenne: «Warum läufst du eigentlich immer herum? Hast du kein Zuhause?» – Ein wenig Recht hat es ja …

 

Der Weg aus der Angst hat mich so tief verunsichert, dass ich mich die meiste Zeit völlig schutzlos und bodenlos fühlte und oft nicht wusste, wie ich den Tag überstehen sollte. Dann gaben mir die Menschen, denen ich zufällig begegnete, ein wenig Halt, ob sie es wussten oder nicht.

 

Mehr als ein Mal kam es vor, dass ich in Panik verzweifelt das Haus verliess, zur Dorfstrasse hoch eilte, dort Maria vom «Bed & Breakfast» vor ihrem wunderschönen Holzhaus stehen sah und vor ihr sogleich in Tränen ausbrach. Jedes Mal nahm sie sich Zeit, auch wenn sie Gäste zu betreuen hatte, munterte mich auf, lud mich (vergeblich) auf einen Kaffee ins Haus, versuchte zu helfen, obwohl ihr meine Zustände gänzlich fremd waren.

 

Später war es der Wirt vom Restaurant Sternegg, der mir immer von Weitem zuwinkte und mir irgendwann zurief, wie es mir gehe. Auf der winterlich geräumten Terrasse erzählte ich ihm, warum ich immer «da draussen herumrenne». Auch er blieb nicht verschont von meinen Tränen … Doch er zeigte von Anfang an nur Verständnis. Immer wieder lädt er mich (vergeblich) in sein Lokal ein und vermittelt mir etwas von seiner natürlichen Lebensklugheit. Sobald seine Kochkünste verlangt werden, sind seine kurzen Pausen und unsere Gespräche jeweils beendet.

 

Mit Frau L. gehe ich fast täglich ein Wegstück; wir treffen uns, als wäre es vereinbart, wenn sie, von der Stadt her kommend, ihr Velo den Berg hochschiebt. Sie macht mir Mut und wirkt durch ihre Zuversicht und Verlässlichkeit beruhigend auf mich. Oft bin ich einfach nur froh, mit ihr ein wenig reden zu können und dabei zu spüren, dass auch sie unsere Gespräche schätzt.

 

So ergeben sich immer wieder Begegnungen mit Bekannten oder Unbekannten, mit vielen Katzen und Hunden, die mich alle auf ihre Weise unterstützen. Oder ich betrachte eine Weile den Pilatus und versuche, in mir etwas von seiner Unerschütterlichkeit zu erkennen.

 

Ein Klinikaufenthalt wäre «medizinisch» angezeigt gewesen. Da ich aber mein 21 Jahre altes Büsi, das mein Ein und Alles war, nicht alleine lassen wollte, kam ein solcher schon deshalb nicht in Frage. So wurde das Quartier quasi zur «Klinik Sternmatt». Ein schöner Name für eine Klinik, die auf keiner Spitalliste zu finden ist.

 

Nach der unfreiwilligen Klausur in der Wohnung, kann ich mir keinen besseren Ort als das Sternmatt-Quartier mit seinen Bewohnern vorstellen, um Vertrauen zu entwickeln und zu erfahren, dass die «Gefahr» einzig in meinen Vorstellungen besteht.

 

Ich war noch niemals in New York. Doch ich sehe die Fülle und Vielfalt im Bekannten, Naheliegenden. Und vielleicht mache ich bis zum Frühling nach Jahren erstmals wieder eine Reise an den Schwanenplatz …

 

Karin Linsi

www.karinlinsi.ch

Karin Linsi: «Tasten auf dünnem Eis», 2006, ISBN 978-3-8334-6107-1